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Alexander Geimer

Garfinkels Transsexuellen-Studie: Agnes

Garfinkel untersucht in seiner Transsexuellenstudie über ‚Agnes‘ die Praktiken der alltäglichen interaktiven Produktion des Geschlechts. Ähnlich wie in seinen Krisenexperimenten beobachtet er auch hier die Herstellung von ‚Normalität‘ anhand der Abweichung davon, der Her- und Darstellung ihres Geschlechts durch die ‚Mann-Frau-Transsexuelle‘ Agnes. Interessant daran ist, so Garfinkel, die signifikant paradoxe Lage, in der sich Transsexuelle befinden: Sie weichen einerseits von den allgemein als selbstverständlich hingenommenen Eigenschaften des Geschlechts nach dem Alltagswissen ab und orientieren sich andererseits doch selbst daran. Vom Standpunkt eines erwachsenen Mitglieds unserer Gesellschaft hat das Geschlecht u.a. die folgenden Eigenschaften (vgl. Garfinkel, 1967: 122ff.):

  • Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter

  • Die Differenz ist natürlich

  • Die Differenz ist unabänderlich

  • Das Geschlecht ist nicht wählbar

Die Genitalien sind die wichtigsten Anzeichen für die Geschlechtszugehörigkeit. Transsexuelle verstoßen jedoch offensichtlich gegen die Natürlichkeit, Nicht-Wählbarkeit und Unveränderlichkeit des Geschlechts, allerdings nicht in den Augen der Transsexuellen selbst. So glaubt Agnes schon immer eine Frau gewesen zu sein, weswegen sich ihr Geschlecht nicht ändert, sondern nur die biologische Ausstattung diesem Faktum angepasst werden muss: Ihr Penis ist ein ‚Fehler der Natur', der zu korrigieren ist. Aus der Perspektive von Agnes wählt sie also nicht ihr Geschlecht und ändert es auch nicht. Sie glaubt ebenso an die natürliche Fundierung, ansonsten wäre eine ‚Umwandlungs‘-OP nicht zwingend und die Abweichung kein Fehler der Natur. Generalisiert man von dem Fall ‚Agnes‘ ausgehend, so leben Transsexuelle in keiner anderen Normalität, ihnen selbst ist ihr Geschlecht ebenso selbstverständlich wie allen anderen. So gesehen ist also Transsexualität nicht per se subversiv, denn sie unterläuft nicht die Geschlechterdifferenz. Aufgrund ihrer Umwandlung müssen Transsexuelle aber annehmen, dass Andere, wenn sie um ihren Zustand wüssten, ihnen ihr Geschlecht nicht ‚abnehmen‘ würden. Daher sind sie für die Praktiken der alltäglichen Herstellung des Geschlechts besonders empfindlich. In gewissem Sinne sind sie ‚naive‘ Ethnomethodologen/-innen, welche die natürliche Einstellung einklammern und ein besonderes Interesse für die Konstruktionsmechanismen der Zwei-Geschlechtlichkeit haben – freilich ist dies kein Forschungsinteresse, sondern ein Interesse daran, überall und immer als Person eines Geschlechts erkannt und entsprechend behandelt zu werden. [1]

 

Literatur:

GARFINKEL, Harold: Studies in Ethnomethodology, Cambridge: Polity Press 1967.


Zitationsvorschlag:

Geimer, Alexander (2005). Garfinkels Transsexuellen-Studie: Agnes. In A. G. i. d. E. Freie Universität Berlin (Hrsg.), Glossar Geschlechterforschung. Verfügbar unter http://userpage.fu-berlin.de/~glossar/

 

Dr. Alexander Geimer

  • geb. 23.06.1977

  • Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Rehabilitationswissenschaften, Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Sehens

  • Arbeitsschwerpunkte/Forschungsinteressen: Subjektivierungs- und Bildungsforschung, Medienpädagogik und Mediensoziologie, Cultural, Gender und Disability Studies

  • alexander.geimer@hu-berlin.de, http://www.alexander-geimer.de

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