Der Begriff Disability Mainstreaming beinhaltet Zielvorgabe und Vorgehen bezüglich des Prozesses, die Belange von Menschen mit Behinderung von einer bis dato marginalisierten gesellschaftlichen Perspektive in eine allgemeine gesellschaftliche Angelegenheit zu überführen. In Konzeption und Praxis erfolgt eine Bezugnahme zur Begrifflichkeit und Umsetzung des Gender Mainstreaming. Disability Mainstreaming basiert auf einem sozialkonstruktivistischen Ansatz von Behinderung. Dabei wird ‚Behinderung‘ vorrangig als soziale Konstruktion und weniger als natürliche Tatsache auf der Ebene der Beeinträchtigung interpretiert und geht mit der Erfahrung von Diskriminierung und Exklusion einher. [1]
In Anlehnung an die allgemeine Definition von Mainstreaming bedeutet Disability Mainstreaming, Anliegen und Bedürfnisse der benachteiligten Personengruppe ‚Menschen mit Behinderung‘ nicht allein in den für diese Gruppe offensichtlich wichtigen Bereichen anzusprechen, sondern diese in allen gesellschaftspolitischen Handlungsebenen mitzudenken und dementsprechende Forderungen umzusetzen (European Commission, 2005). Dies kann erreicht werden, indem die Verankerung der Sichtweise ‚Behinderung‘ in alle Prozessschritte der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche von Politik bis Wissenschaft erfolgt und zwar bereits von der Planung an, über die konkrete Umsetzung bis hin zur Evaluation (Disability High Level Group, 2006). [2]
Unumgängliche Voraussetzung für Disability Mainstreaming ist die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen und ihren Belangen, wobei den Behindertenverbänden mit ihrem Engagement die entscheidende Rolle hinsichtlich der Vergegenwärtigung der Perspektive ‚Behinderung‘ zukommt (Grüber, 2007). Disability Mainstreaming ist konzeptionell ein Teilaspekt von Diversity Management. Da aber in der praktischen Umsetzung die Kategorie ‚Behinderung‘ häufig ausgeklammert und im Gegensatz zu weiteren Diversity-Kategorien weniger als Ressource begriffen wird, bedarf es weiterhin einer deutlichen Formulierung der spezifischen Anliegen von behinderten Menschen (Grüber, 2010a). [3]
Im bundesdeutschen Raum wurde Disability Mainstreaming durch Karl Hermann Haack, den früheren Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, formuliert: „Jedwedes politisches und gesellschaftliches Handeln soll danach befragt werden, in welcher Weise es zur Gleichstellung und Teilhabe behinderter Menschen beiträgt oder sie verhindert“ (Haack, 2004, zitiert in Grüber, 2010b, S. 34). Mittlerweile hat der Begriff Eingang in verschiedene Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung in Deutschland gefunden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2011; Boehringer Ingelheim, 2012). Im Ansatz, die Partizipation von Menschen mit Behinderung nicht ausschließlich als soziale Thematik des Nachteilsausgleichs anzusehen, sondern als gesamtgesellschaftlichen Auftrag, der über das Bemühen um Antidiskriminierung hinausgeht, finden sich zudem prinzipielle Übereinstimmungen zum Begriff Gleichstellung (für die Verfassung von Berlin: Grüber, Ackermann & Spörke, 2011). [4]
Gender Mainstreaming dient als konzeptionelle Vorlage und ermöglicht erfahrungsbasierte Praxisanleitung. Bezugspunkte beider Strömungen ergeben sich über die sozialkonstruktivistische Zugangsweise der Gegenstandsbereiche. Wichtige Unterschiede liegen im eingeschränkten physischen und kommunikativen gesellschaftlichen Zugang behinderter Menschen und geringerer öffentlicher Wahrnehmung ihrer spezifischen Belange (Miller & Albert, 2005). Zudem erschwert die Heterogenität der Personengruppe hinsichtlich der Lebenssituation und der Bandbreite von körperlichen, psychischen und mentalen Behinderungen die Bildung von Gruppenidentitäten und -interessen (Scully, 2006). [5]
Literatur:
Boehringer Ingelheim. (2012). Aktionsplan 2012–2020: Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG, Hrsg.), Ingelheim am Rhein. Verfügbar unter http://www.einfach-teilhaben.de/SharedDocs/Downloads/DE/StdS/UN_BRK/aktionsplan_boehringer_ingelheim.pdf;jsessionid=5E7C7EE6861F7224779F92FE36DA7091.1_cid360?__blob=publicationFile.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (2011). Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft: Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Hrsg.), Berlin. Verfügbar unter http://www.einfach-teilhaben.de/DE/StdS/Home/downloads_nap.html?nn=1649116.
Disability High Level Group. (2006). Disability mainstreaming in the new streamlined European social protection and inclusion: Discussion Paper (Disability High Level Group, Hrsg.). Verfügbar unter http://ec.europa.eu/justice/discrimination/files/good_practis_en.pdf.
Ehm, S. & Schicktanz, S. (Hrsg.). (2006). Körper als Maß?: Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse. Stuttgart: Hirzel.
European Commission. (2005). Disability mainstreaming in the European Employment Strategy. EMCO/11/290605 (European Commission, Hrsg.), Brüssel. Verfügbar unter http://www.handicap-international.fr/bibliographie-handicap/4PolitiqueHandicap/thematique/Emploi/DisabilityMainstream.pdf.
Grüber, K. (2007). Disability Mainstreaming als Gesellschaftskonzept: Annäherungen an einen vielversprechenden Begriff. Sozialrecht + Praxis, 17 (7), 437-444.
Grüber, K. (2010). Es ist normal, verschieden zu sein (Caritas, Hrsg.), Freiburg. Verfügbar unter http://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/jahrgang2010/artikel/esistnormalverschiedenzusein.
Grüber, K. (2010). Zusammen leben ohne Barrieren: Die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kommunen (Handreichung zur Politischen Bildung, Bd. 2). Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung.
Grüber, K., Ackermann, S. & Spörke, M. (2011). Disability Mainstreaming in Berlin: Das Thema Behinderung geht alle an (1. Aufl.) (Institut Mensch, E. W., Hrsg.), Berlin. Verfügbar unter http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb-behi/studie_disability_mainstreaming.pdf?start&ts=1310655744&file=studie_disability_mainstreaming.pdf.
Miller, C. & Albert, B. (2005). Mainstreaming disability in development: Lessons from gender mainstreaming. Verfügbar unter http://www.dfid.gov.uk/r4d/PDF/Outputs/Disability/RedPov_gender.pdf.
Scully, J. L. (2006). Disabled Knowledge: Die Bedeutung von Krankheit und Körperlichkeit für das Selbstbild. In S. Ehm & S. Schicktanz (Hrsg.), Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse (S. 187–206). Stuttgart: Hirzel.
Zitationsvorschlag:
Behrisch, Birgit (2013). Diability Mainstreaming. In Gender Glossar / Gender Glossary (5 Absätze). Verfügbar unter: http://gender-glossar.de
Persistente URN:
urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-219374 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)
Dr. Birgit Behrisch
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogik der Kindheit
Arbeitsschwerpunkte / Forschungsinteressen: Inklusive Pädagogik; Soziologie der Behinderung / Disability Studies; Partizipative Forschung
birgit.behrisch@khsb-berlin.de, https://www.khsb-berlin.de/de/profile-personal/4004
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