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  • Merle Dyroff

Femizid

Der analog zum geschlechtsneutralen englischen Begriff homicide (Tötung) entwickelte Begriff femicide (Femizid) bezeichnet „frauenfeindliche Tötungen von Frauen durch Männer“ (Russel 1992, S. xi, Übersetzung M.D.). Er wird in wissenschaftlichen, juridischen, politischen und aktivistischen Kontexten verwendet, um bestimmte Tötungen an Frauen von anderen Formen tödlicher Gewalt abzugrenzen und als spezifisches Phänomen zu problematisieren. Nach der Einordnung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) können Femizide als äußerster Akt eines weiten Spektrums von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verstanden werden, der in den meisten Fällen nicht als isolierte Handlung, sondern in einem Kontinuum der Gewalt, als dessen massivste Form, verübt wird (WHO, 2012). Obwohl keine einheitliche Definition vorherrscht, eint verschiedene sozialwissenschaftliche Ansätze, dass sie Femizide als einen extremen Ausdruck hierarchischer Geschlechterverhältnisse und männlichen Dominanzbestrebens begreifen (Corradi, Marcuello-Servós, Boira&Weil, 2016). Nicht jede Tötung einer Frau wird demzufolge mit dem Begriff erfasst, sondern nur solche, die im Kontext einer allgemeinen Frauenunterdrückung in patriarchalen Gesellschaften verübt werden. [1]

In Bezug auf die verschiedenen Formen und Kategorisierungen von Femiziden existieren unterschiedliche Bestimmungen. Während internationale Organisationen, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Femizide als vorsätzliche Tötungen von Frauen bezeichnet und zwischen Femiziden innerhalb und außerhalb intimer Beziehungen unterscheidet, existieren im Kontext sozialwissenschaftlicher Forschungen zwei zentrale Kriterien, nach denen sich Femizide von anderen Morden differenzieren lassen. Diese sind zum einen die Täter-Opfer-Beziehung, wobei die - nach aktuellem Forschungsstand - global am häufigsten vorkommende Form, Femizide im Kontext intimer Beziehungen, untersucht und weiter ausdifferenziert wird. Zum anderen wird der Fokus auf die unterschiedlichen Hintergründe und Motive der Tat gelegt, die mit der Geschlechtszugehörigkeit des Opfers im Zusammenhang stehen, wobei grundlegend verschiedene Arten von Frauenmorden in den Blick genommen werden. (vgl. Dawson & Carrigan, 2020, S. 2). [2]

Internationale feministische Kämpfe richten sich bereits seit Jahrzehnten gegen Femizide. Als es in den 1990er Jahren in Mexiko, El Salvador und Guatemala zu einem alarmierenden Anstieg von Gewalttaten gegen Frauen kam, diente das Konzept des Femizids als Ausgangspunkt, um geschlechtsbasierte Morde an Frauen einordnen zu können und Formen des Protests und Widerstands zu entwickeln (vgl. Manjoo, 2012, S. 6). Ein Ereignis, das als zentraler Bezugspunkt für feministische Bewegungen und theoretische Debatten gilt, war eine Reihe brutaler Frauenmorde, die Anfang der 1990er in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juarez begann und während der bis 2003 bis zu 500 Frauen verschwanden und deren getötete Körper oft misshandelt auf Straßen und Brachland wiederauftauchten. Obwohl die Gewalt zu großen Teilen anhält und viele der Morde unaufgeklärt blieben, wurde durch die Proteste von Feministinnen und Angehörigen der getöteten Frauen gegen das Ausbleiben staatlicher Konsequenzen eine internationale Aufmerksamkeit für das Thema geschaffen (Melgar, 2011). Vor dem Hintergrund, dass Femizide schon lange Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen sind, ist auffällig, dass die internationale Debatte rund um das Thema seit einigen Jahren stark zunimmt. Eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Phänomen geht auf die Entstehung feministischer Bewegungen zurück, die ihren Ausgang 2015 in Argentinien unter dem Namen Ni una menos (nicht eine weniger) fanden. Spätestens seit der Formierung dieser Bewegungen, die sich insbesondere in lateinamerikanischen aber auch anderen Ländern wie Italien zu Massenbewegungen entwickelt haben, ist der Begriff des Femizids als Analysekategorie und politischer Bezugspunkt zentral für feministische Initiativen, die gegen männliche Gewalt an Frauen und queeren Menschen kämpfen. Auch in Deutschland gibt es Gruppen, die gegen Femizide vorgehen, wie hiesige Ableger von Ni una menos Gruppen oder die 2017 gegründete Initiativem„KeineMehr“, die an die internationalen Bewegungen anschließt und die Auseinandersetzung zum Thema in Deutschland vorantreibt (Wischnewski, 2018, S. 126). [3]

Den internationalen Bewegungen liegen dabei sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen zugrunde, die bis in die 1970er Jahre zurückreichen. Nachdem die Soziologin Diana Russell den Begriff femicide (Femizid) 1976 bei einem internationalen Tribunal zu Gewalt gegen Frauen in Brüssel erstmalig aufgriff (Russell, 2011), kam es Anfang der 1990er zu einer wissenschaftlichen Elaborierung des Konzepts durch eine von Radford und Russell (1992) veröffentlichte Anthologie mit dem Titel „Femicide. The politics of women killing“. Seit der Veröffentlichung des Sammelbandes, der mittlerweile als Standardwerk zu dem Thema angesehen werden kann, folgten vor allem im englisch- und spanischsprachigen Raum weitere empirische Untersuchungen zu Femiziden und theoretische Auseinandersetzungen.

Das Konzept des Femizids wurde bisher insbesondere in Lateinamerika aufgegriffen und theoretisch ausdifferenziert. Vor dem Hintergrund der Femizide in Ciudad Juarez prägte die Anthropologin Lagarde y de los Ríos (2005) den Begriff feminicidio (Feminizid), der abgeleitet und in Abgrenzung zu dem von Radford und Russel geprägten Terminus femicide (Femizid) einen stärkeren Fokus auf die Verantwortung des Staates bei Frauenmorden legt. Der Begriff wurde von ihr entwickelt, um darauf zu verweisen, dass das Ausbleiben rechtsstaatlicher Konsequenzen im Angesicht von Frauenmorden, die Verteidigung von Menschenrechten untergrabe und das Töten von Frauen befördere. Auch wenn Russell auf das von Lagarde vorgebrachte Konzept erwiderte, dass bereits beim Begriff Femizid der Aspekt der staatlichen Verantwortung enthalten sei, kann der Terminus Feminizid als zentrale analytische Erweiterung betrachtet werden. So können beide Termini (Femizid und Feminizid) vor dem Hintergrund bestimmter politischer, regionaler und historischer Kontexte ein spezifisches Verständnis von Frauenmorden ermöglichen (Dyroff, Pardeller & Wischnewski, 2020). [4]

Das Konzept des Femizids ist seit seiner Entstehung nicht nur ein theoretisches Analyseinstrument, sondern stets auch in aktivistischen Kontexten verwendet und weiterentwickelt worden. Als politisches Konzept stellt der Femizidbegriff einen Bezugspunkt dar, um patriarchale gesellschaftliche Verhältnisse zu problematisieren. So lässt sich beobachten, dass sich unter dem Schlagwort Femizid feministische Kämpfe gegen männliche Gewalt über nationale Grenzen hinweg verbinden.

Zentrale Themen feministischer Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland sind unter anderem die umfassende statistische Erfassung von Femiziden an cis und trans Frauen, eine adäquate Darstellung und Bearbeitung des Phänomens in gesellschaftlichen Diskursen, Kultur und Medien, sowie der Gewaltschutz, die Prävention und eine konsequente strafrechtliche Verfolgung von Femiziden. Entsprechend der polizeilichen Kriminalstatistik, die seit 2011 die Zahl der versuchten und vollendeten Tötungen von Frauen erfasst, die im Kontext von (Ex-)Partnerschaften verübt werden, kommt es in Deutschland durchschnittlich jeden Tag zu einem versuchten und jeden dritten Tag zu einem vollendeten Mord (Dyroff et al., 2020). [5]

 

Literatur:

Corradi, Consuelo; Marcuello-Servós, Chaime; Boira, Santiago & Weil, Shalva (2016). Theories of femicide and their significance for social research. Current Sociology, 64 (7), S. 975–995. doi: https://doi.org/10.1177/0011392115622256.


Dawson Myrna & Carrigan, Michelle (2020). Identifying femicide locally and globally: Understanding the utility and accessibility of sex/gender-related motives and indicators. Current Sociology, 69 (5) S. 682–704. doi: https://10.1177/0011392120946359.


Dyroff, Merle; Pardeller, Marlene & Wischnewski Alex (2020). Femizide in Deutschland. Berlin. Rosa-Luxemburg-Stiftung.


Kaye, Josie (2007). Femicide. SciencePo. Violence de masse et Résistance - Réseau de recherche. Zugriff am 30.10.2020. Verfügbar unter https://www.sciencespo.fr/mass-violence-war-massacre-resistance/fr/document/femicide


Lagarde y de los Ríos, Marcela (2005). El feminicidio, delito contra la humanidad. In Cámara de Diputados LIX Legislatura La H. Congreso de Unión (Hrsg.), Feminicidio, justicia y derecho, S. 151–164. Mexico-Stadt.


Manjoo, Rashida (2012). Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences: Human Rights Council. United Nations.


Marcuello-Servós, Chaime; Corradi, Consuelo; Weil, Shalva & Boira, Santiago (2016). Femicide: A social challenge. Current Sociology, 64 (7), S. 967–974. doi: https://10.1177/0011392116639358.


Melgar, Lucía (2011). Labyrinthe der Straflosigkeit: Frauenmorde in Ciudad Juárez und extreme Gewalt in Mexiko heute. GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 3 (2), S. 90–97.


WHO, Pan American Health Organization (2012). Femicide. Understanding and addressing violence against women. WHO/RHR/12.38.


Radford, Jill & Russell, Diana E. H. (Hrsg.) (1992). Femicide. The politics of woman killing. New York: Twayne; Maxwell Macmillan Canada; Maxwell Macmillan International.


Russell, Diana (2011). The Origin and Importance of the Term Femicide. Zugriff am 30.10.2020. Verfügbar unter https://www.dianarussell.com/origin_of_femicide.html


Wischnewski, Alex (2018). Femi(ni)zide in Deutschland – ein Perspektivwechsel. FEMINA POLITICA - Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 27 (2), S. 126–134. doi: https://10.3224/feminapolitica.v27i2.10.


Zitationsvorschlag:

Dyroff, Merle (2021). Femizid. In Gender Glossar / Gender Glossary (5 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de


Persistente URN:

urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-794148 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)

 

Merle Dyroff


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