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Paul Mecheril & Laura Meyer-Stolte

Zuschreibung


kurz:erklärt

Zuschreibung, die substantivierte Form des Verbs zuschreiben, verweist zunächst auf ein Verhältnis, in der von einer sozialen Entität L zur nächsten, Entität P, etwas transportiert wird. Dieses Etwas hat im Rahmen von Praktiken, die als Zuschreibung bezeichnet werden (können), die Form einer Art Repräsentation oder Vorstellung, die der sozialen Entität P zugeordnet wird und die, performativitätstheoretisch gedacht, im Vollzug der Zuordnung wirksam wird. Entität P wird zur Trägerin dieser Zuschreibung, zumindest dann, wenn sich die Zuschreibung des Etwas (eine Eigenschaft von P; ein Vermögen von P; Ps Geschichte; Gründe, die Ps Tun und Denken und Empfinden erklärbar machen) wiederholt vollzieht und dominanzkulturell als plausibel gilt. Dann schreiben sich Zuschreibungen gewissermaßen ein. „Gib einer Gruppe einen schlechten Namen,“, so Norbert Elias und John Scotson in „Etablierte und Außenseiter“, „und sie wird ihm nachkommen“ (1993, S. 24). [1]

Zuschreibung stellt einen Prozess dar, in dem etwas sich dem Gegenüber gleichsam auflegt, wie ein Geruch haften bleibt und das Gegenüber die Gestalt gewinnt oder sich gegen diese (ver)wehrt, die in der Zuschreibung vorgesehen ist.[2]

Unter welchen Bedingungen sind Zuschreibungen wirksam? Zuschreibungen sind wirksam, wenn sie soziale Realität herstellen, wenn also beispielsweise eine ungewollt schwangere Person verpflichtet wird, eine sogenannte Schwangerschaftskonfliktberatung aufzusuchen, da Frauen* in solchen Situationen eine innere Konflikthaftigkeit zugeschrieben wird, die an historisch gewachsene Vorstellungen von vergeschlechtlichter psychischer (In-)Stabilität anknüpft (Helfferich, 2014). [3]

Diese institutionelle Unterstellung und diagnostische Typisierung ist dann mehr als eine situative Hervorbringung. In zweierlei Hinsicht: [4]


a) Zuschreibungen stellen Phänome dar, die von gesellschaftlich tradierten Vorstellungsbildern, Empfindungen, Wahrnehmungsbereitschaften, Stereotypen und sich immer wieder in selektiver Rezeption und differentieller Ignoranz bewahrheitenden Phantasien vermittelt sind; [5]


b) die je letzte Zuschreibung ist das letzte Glied einer Kette iterativ, also wiederholt aufgeführter Kopien, die weitere Kopien nach sich ziehen. Zuschreibungen gewinnen über Wiederholungen ihre gesellschaftlich Macht, wobei die Zuschreibung, weil jede Wiederholung ein wenig anders ist, als das, was sie wiederholt, nicht bedeutungsfixiert ist. [6]

Zuschreibungen sind gesellschaftlich vermittelt und vermitteln Gesellschaftlichkeit. Dies macht ihre Wirksamkeit aus. So könnte die Zuschreibung innerer Konflikthaftigkeit und Entscheidungsinkompetenz im Rahmen einer ungewollten Schwangerschaft (Krolzik-Matthei, 2014) weitreichende Folgen haben, beispielsweise durch verpflichtende Beratungsgespräche (oftmals als ,Schwangerschaftskonfliktberatung‘ bezeichnet) oder das erst 2022 abgeschaffte sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche (ehemals §219a StGB). [7]


Bei Zuschreibungen handelt es sich um eine interpretative Praxis, und es könnte daran anschließend die Frage gestellt werden, was Zuschreibungen von anderen Interpretationspraktiken unterscheidet. Wir nähern uns einer Antwort mit Bezug auf drei Aspekte: a) Asymmetrisierung, b) Kollektivierung, c) Verkörperlichung. [8]

 

a) Asymmetrisierung

Zuschreibungen können verstanden werden als klein(st)e interpretative Einheit der Erneuerung und Bewahrung gesellschaftlicher Asymmetrien, deren größere Einheiten Stigmatisierung, symbolische und epistemische Gewalt, Dominanz und Herrschaft sind. Insofern stellen Zuschreibungen eine Art atomare Einheit einer spezifischen Klasse von Interpretationspraktiken dar, die damit verbunden sind, dass soziale und gesellschaftliche Hierarchien hergestellt werden. Zuschreibungen finden in hierarchischen Strukturen statt, die diese Zuschreibungen erst ermöglichen und hervorbringen. Werden Zuschreibungen wiederholt, bekräftigen sie wiederum diese Hierarchien. Anders gesagt, stellen Zuschreibungen auf inhaltlich-performativer Ebene Praktiken der sozialen Ab- und mindestens impliziten Aufwertung dar. In dieser macht- oder asymmetrietheoretischen Anlage unterscheidet sich der Begriff der Zuschreibung etwa vom Attributions- oder Adressierungsbegriff. Der Inhalt der Zuschreibung wertet, und Zuschreibungen sind wirksam, wenn sie in einem Kommunikationsverhältnis stattfinden und es konstituieren, in dem die symbolischen und praktischen, etwa rhetorischen, Ressourcen der beteiligten Akteur*innen, jener, die zuschreibt (L) und jene, die die Zuschreibung erfährt (P), ungleich verteilt sind. In Zuschreibungspraktiken sind also stets Ab- und Aufwertungen enthalten. [9]

 

b) Kollektivierung

Zuschreibungen resultieren aus gesellschaftlichen Ordnungen, werden also von diesen Ordnungen hervorgebracht und bestätigen diese. Daher sind Zuschreibungen nicht beliebig, sondern resultieren aus gesellschaftlichen Ordnungen, die sie hervorbringen und bestätigen. Erst über die Verwendung des schlechten Namens und die das Schlechte des Namens überhaupt ermöglichenden Zuschreibungen verwirklicht sich das Verhältnis von Etablierten und Außenseitern. Es sind beispielsweise Zuschreibungen wie sexuell gefährlich oder physisch bedrohlich (Mecheril & van der Haagen-Wulff, 2016) oder ökonomisch belastend, die geflüchtete Menschen zu Flüchtlingen machen und kollektiv kennzeichnen, kollektivieren. Zuschreibungen fassen Menschen zu Gruppen mit vermeintlich ähnlichen Kennzeichen, die in der wiederholten Zuschreibung entstehen, zusammen. Zuschreibungen wirken sowohl auf gesamtgesellschaftlicher, als auch auf der Ebene konkreter Erfahrungen der Einzelnen produktiv, da Zuschreibungen einen Rahmen mitkonstruieren, in dem strukturiert wird, was wie erlebt werden kann und wird. [10]

Zuschreibungen unterscheiden, trennen, ordnen und sind mit Aus- und Einschlüssen verbunden; insofern kollektivieren sie. Zuschreibungen kennzeichnet ihre Einfachheit, wodurch sie die Imagination von Kollektiven und die Imagination der Differenz dieser Kollektive ermöglichen. Durch die Zuschreibung von Attributen wird das, was nicht zu der je konstruierten Gruppe gehört, von einer anderen konstruierten Gruppe getrennt. [11]

 

c) Verkörperlichung

Das, was zugeschrieben wird und das, was im Sinne dessen, was möglich, sagbar und machbar wird, zugeschrieben werden kann, ist überindividuell und folgt historisch-diskursiven Zuschreibungsmustern (und -regeln). [12]

Körper sind hierbei oftmals Verhandlungsfläche, Ausgangspunkt und Ort der Zuschreibungen. Der Körper wird so zu einem Indikator und zu einem Auskunftsgeber. Der Körper ist durch seine Sichtbarkeit das, was ihn in seiner Zugänglichkeit für die Be-Schreibung öffnet. Zuschreibungen, wenn sie auf Körper bezogen sind und vom Körper abgeleitet zu sein scheinen, und damit an etwas gebunden sind, das vermeintlich eine manifeste Materialität aufweist, kommt nicht selten der Status zu, gültig zu sein – wenn es am Körper zu sehen ist, muss es wahr sein. [13]

Aus geschlechtshistorischer Sicht ist beispielsweise die mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften in der Moderne verbundene ,Entdeckung‘ der vermeintlich natürlichen Zweigeschlechtlichkeit die Voraussetzung dafür, eine klar scheinende, binär organisierte Geschlechtsidentität am und im Körper zu verorten (Laqueur, 1992; Duden, 2008). Die Zuschreibung von Zweigeschlechtlichkeit auf eine verkörperte und am Körper positivierte Geschlechtsidentität, die dann auch den Leib und Leiblichkeit (unterschiedlich) konstituiert, bestätigt sich zirkulär, weil der durch die Brille der Zweigeschlechtlichkeit wahrgenommene Körper das entsprechende Schema zu bestätigen scheint. Der beobachtete und erfahrene Körper liefert den Beleg und zuweilen auch den Beweis dafür, dass die Zuschreibung zutreffend ist: Die Geschlechtsidentität wird zur Essenz der Körperträger:in. Die Zuschreibung haftet am Körper. Was der Körper zeigt, scheint eindeutig, Geschlechterdifferenz wird Körperdifferenz und vice versa (Lindemann, 2019). [14]

Zuschreibungsmuster finden sich entlang verschiedener Differenzkategorien und haben das Vermögen, eine legitimierende Funktion einzunehmen: Frauen* wird entlang ihres vergeschlechtlichten Körpers zugeschrieben, ,qua Natur‘ die geeigneteren Care-Arbeiterinnen zu sein, womit nicht-entlohnte Care-Arbeit legitimiert wird. Die Körper natio-ethno-kulturell und rassistisch diskreditierbarer Personen werden als unbeherrscht, unkontrolliert, unzivilisiert erlebt und abgewertet, dem schwarz und männlich gelesen Körper wird Bedrohlichkeit zugeschrieben (Hark & Villa, 2018) und er wird zum Bezugspunkt der Zuschreibung von Devianz (Brunner, 2020), wodurch das Verwehren menschenrechtlich verbürgter Ansprüche in einer spezifischen Intersektion von race und gender kulturell und rechtsstaatlich möglich wird (Lingen-Ali & Mecheril 2020). Dem vielgewichtigen Körper wird zugeschrieben, ein ungehorsamer, fauler und sperriger Körper zu sein (Villa, 2022, S. 242) und legitimiert, warum ein solcher Körper im Gesundheitssystem Diskriminierung und disziplinierende Responsibilisierung erfährt (Pausé et al., 2021). [15]

Zuschreibung werden so zu einem Merkmal einer Person, das diese nicht einfach ,abschütteln‘ kann; die Zuschreibung haftet an und schmiegt sich in die Körper. Der Körper kann so als Ort von Zuschreibungen wie auch als Träger der Zuschreibung von Normen, die erfüllt oder verfehlt werden, betrachtet werden. Der als der andere Körper beschriebene, etwa der queere Körper (Albrecht, 2022), der nicht der Norm entspricht, fordert dabei einerseits die Norm heraus, wobei nicht immer damit zu rechnen ist, dass diese Irritation das historisch-tradierte Zuschreibungsmuster sofort bricht, und sichert andererseits durch seine Anwesenheit die Norm. [16]

Zuschreibungen, die in und aus sozialen Ordnungen wirksam werden, weisen einen kontingenten Charakter auf. Zuschreibungen und die Macht, die sie entfalten, weisen eine bestimmte Geschichte auf, und die Geschichte kann sich ändern und dies muss sie auch, sonst wäre sie nicht Geschichte. Die Wandlungsprozesse, denen Zuschreibungen unterliegen, ermöglichen zuweilen, dass die Zuschreibungen generierenden Ordnungen problematisiert werden. Wo dieser Wandel und die Zuschreibungsordnung, die aus diesem Wandel resultiert, gegenüber der vorher geltenden Ordnung mit weniger Abfälligkeit und Gewalt verbunden ist, kann, so finden wir, der Wandel begrüßt werden. [17]

 

Literatur:

Albrecht, Magda (2022). Queer. In: Herrmann, Anja; Kim, Tae Jun; Kindinger, Evangelia; Mackert, Nina; Rose, Lotte; Schorb, Friedrich; Tolasch, Eva; Villa, Paula-Irene. (Hg.). Fat Studies. Ein Glossar (S. 229-232). Bielefeld: transcript Verlag.


Brunner, Claudia (2020). Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript Verlag.


Duden, Barbara (2008). Frauen-„Körper“: Erfahrung und Diskurs (1970-2004). In: Becker, Ruth & Kortendiek, Beate (Hg.). Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (S. 594-607). Wiesbaden: Springer VS.


Elias, Norbert & Scotson, John L. (1993). Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Helfferich, Cornelia (2014): Schwangerschaftsabbruch und empirische Forschung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion eines Forschungsgegenstands im Schatten moralischer Diskurse. In: Busch, Ulrike & Hahn, Daphne (Hg.): Abtreibung. Diskurse und Tendenzen (S. 61-81). Bielefeld: transcript Verlag.


Krolzik-Matthei, Katja (2014). Abtreibung als Gegenstand feministischer Debatten – Hintergründe, Befunde, Fragen. In: Busch, Ulrike & Hahn, Daphne (Hg.): Abtreibung. Diskurse und Tendenzen (S. 103-118). Bielefeld: transcript Verlag.


Laqueur, Thomas (1992). Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. Main: Campus Verlag.


Lindemann, Gesa (2019). Leiblichkeit – Körper: neue Perspektiven auf Geschlechterdifferenzen. In: Kortendiek, Beate; Riegraf, Birgit & Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, Band 65 (S. 35-44). Wiesbaden: Springer VS.


Lingen-Ali, Ulrike & Mecheril, Paul (2020). Rückständigkeitsgenerative Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft. In: Ulrike Lingen-Ali, Ulrike & Mecheril, Paul (Hg.). Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft (S. 7-16). Bielefeld: transcript Verlag.


Mecheril, Paul & van der Haagen-Wulff, Monica (2016). Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaft. In: Castro Varela, María do Mar & Mecheril, Paul (Hg.). Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart (S. 119-142). Bielefeld: transcript Verlag.


Pausé, Cat; Parker, George; Gray, Lesley (2021). Resisting the Problematization of Fatness in COVID-19: In Pursuit of Health Justice. In: International Journal of Disaster Risk Reduction 54.

 

Zitationsvorschlag:

Mecheril, Paul & Meyer-Stolte, Laura (2024). Zuschreibung. In Gender Glossar / Gender Glossary (17 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de

 

Peristente URN:


 

Prof. Dr. Paul Mecheril

Diplom-Psychologe, Promotion in der Psychologie, Habilitation in der Erziehungswissenschaft. Aktuell: Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Schwerpunkte: Migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen und Bildung; Rassismustheorie; Pädagogische Professionalität.

 

Laura Meyer-Stolte (M.A.)

hat Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft studiert und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sie sich mit körpernaher Arbeit mit spezifischem Fokus auf (kommodifizierter) Intimität aus feministischer und rassismuskritischer Perspektive. laura.meyer-stolte@uni-bielefeld.de


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