kurz:erklärt
Frauenliteratur ist ein Sammelbegriff, der das gesamte von Frauen verfasste Schrifttum bezeichnet. Im engeren Sinne wird darunter Literatur verstanden, die von Frauen für Frauen geschrieben wurde und ‚weibliche Erfahrung‘ thematisiert (vgl. Osinski, 2006; Stephan, 2007; Wilpert, 2013). Frauenliteratur wird zudem als Label für die Vermarktung von Texten, die hauptsächlich von Frauen gelesen werden, verwendet (vgl. Reichwein, 2009, S. 95). Allen Lesarten gemeinsam ist, dass die Definition über vergeschlechtlichte Subjekte – Autor_innen, Leser_innen, Protagonist_innen – erfolgt, ganz im Gegensatz zur unmarkierten (‚Männer‘-)Literatur, die in der Tradition männlicher Autorschaft als ‚Norm‘ gilt und daher nicht deklariert wird. Dass ‚das weibliche Geschlecht‘ als literarisches Konzept fungiert, birgt die Gefahr der Homogenisierung und Marginalisierung der Literatur von oder für Frauen. Um dieser Problematik zu begegnen, hat Sigrid Weigel vorgeschlagen, Frauenliteratur nicht als Gattungs- bzw. Genrebegriff, sondern als diskursives Ereignis zu verstehen (vgl. Weigel, 1987, S. 19). Dadurch wird die Frage nach den „Möglichkeitsbedingungen und Defiziten [...], aus denen heraus der Diskurs der ‚Frauenliteratur‘ entstanden ist“, und danach, „welche Spuren er in der Gegenwartsliteratur von Frauen hinterlassen hat“ (Weigel, 1987, S. 19), in den Mittelpunkt gerückt. [1]
Frauenliteratur ist nicht auf bestimmte Gattungen oder Epochen beschränkt: Von den aus der Antike überlieferten Versen der Lyriker_innen über die im Mittelalter in Latein oder den jeweiligen ‚Volkssprachen‘ verfassten geistlichen, höfischen und medizinischen Schriften der Nonnen, Mystiker_innen, adligen Frauen, Heiler_innen und Hebammen bis hin zur Gegenwartsliteratur von, für und/oder über Frauen wird alles unter dem Sammelbegriff gefasst (vgl. Osinski, 2006; Wilpert, 2013). Die Rede über Frauenliteratur – ein vor allem im westlich-weißen, europäischen und angloamerikanischen Raum so benannter und erforschter Diskurs – kann jedoch im 18. Jahrhundert verortet werden und ist eng mit der Gattung Roman verknüpft. Industrialisierung und Urbanisierung stellten Voraussetzungen dafür dar, dass vor allem bürgerliche Frauen verstärkt Literatur konsumierten und auch publizierten. Ihre traditionellen häuslichen Beschäftigungsfelder, wie z. B. das Brauen, Backen, Spinnen und Weben, wurden in die Fabriken verlagert, sodass sie sich ganz dem ‚privaten‘ Leben widmen konnten (vgl. Eagleton, 2000, S. 254–255). Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘, wie „die mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale“ (Hausen, 2007, S. 173) genannt wurden, führte zu einer Festschreibung des vermeintlich komplementären Wesens von Mann (öffentlich, aktiv, rational etc.) und Frau (privat, passiv, emotional etc.) in allen Bereichen des Lebens (vgl. Hausen, 2007). Der vor allem ab der Mitte des 18. Jahrhunderts favorisierte Typ des ‚Weiblichen‘ – die ‚Empfindsame‘, gegenüber der analog zum ‚Männlichen‘ gedachten, bürgerlich-emanzipierten ‚Gelehrten‘ – entspricht dieser Polarität (vgl. Bovenschen, 2003). Auch bestimmten literarischen Formen, wie der Lyrik, der autobiographischen Brief-, Reise- und Ratgeberliteratur oder dem Roman, wurde ein natürlich-weiblicher Status zugeschrieben, der von einer männlich dominierten Gattungstradition abwich (vgl. Blödorn, 2010, S. 65). [2]
Der Roman stellte sowohl für schreibende als auch für lesende Frauen die beliebteste Gattung dar, da er ihnen aufgrund seiner Neuheit, seines noch geringen Prestiges und der leichten Lesbarkeit einen niederschwelligen Zugang zur Literatur bot (vgl. Römer, 2011; Woolf, 2012, S. 76–77). Das zunehmende Ansehen der Gattung zog eine geschlechtsspezifische Differenzierung nach sich: den ‚Frauenroman‘, der im deutschsprachigen Raum von Christoph Martin Wieland (1733–1813) in seiner Vorrede zu Sophie von La Roches (1730–1807) Geschichte des Fräuleins von Sternheim etabliert wurde (vgl. La Roche, 2013 [1771], S. 7–15). Damit eröffnete er La Roches Roman zwar einerseits „einen Platz im literarischen Feld, beschränkte ihn [aber] andererseits mit dieser griffigen Etikettierung für die Rezeption und Nachwelt“ (Becker-Cantarino, 2008, S. 88). ‚Frauenromane‘ wurden von der Literaturkritik in der Regel mit pädagogischer Gebrauchsliteratur oder mit gut verkäuflichen, wenig prestigeträchtigen Liebesromanen gleichgesetzt – eine Verallgemeinerung, die Mary Ann Evans (1819–1880), bekannt unter dem Namen George Eliot, in ihrem Aufsatz Silly Novels by Lady Novelists kritisierte (vgl. Eliot, 1856). Viele Schriftsteller_innen sahen sich wie Eliot zur Annahme eines Pseudoandronyms gezwungen, um am männlich dominierten Literaturmarkt ernst genommen zu werden (vgl. Kord, 1996). [3]
Die Diskriminierung der Werke von Autor_innen hatte deren beinahe gänzliches Verschwinden aus der Literaturgeschichtsschreibung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur Folge (vgl. Nieberle, 2013, S. 22–48). Ende der 1960er Jahre entwickelte sich die feministische Literaturtheorie bzw. -wissenschaft, die den schreibenden Frauen der Geschichte zunehmend Sichtbarkeit verlieh – einerseits den fiktionalen Frauenfiguren in kanonisierten ‚Klassikern‘ (vgl. Stephan & Weigel, 1985), andererseits den realen Schriftsteller_innen und ihren Werken, die neu herausgegeben, interpretiert und in Frauenliteraturlexika (vgl. Brinker-Gabler, Ludwig & Wöffen, 1986) sowie in einer expliziten Frauenliteraturgeschichtsschreibung festgehalten wurden (vgl. Brinker-Gabler, 1988; Gnüg & Möhrmann, 2003). Feministische Literaturwissenschaftler_innen sind sich nicht einig, ob die Separierung der Literatur von Frauen eine „bereits stattgefundene Ghettoisierung beschreibt und enthüllt“ oder vielmehr „dazu beiträgt, solch eine erst zu generieren“ (Volkmann, 2011, S. 34). [4]
Neben der Sichtbarmachung von Autor_innen und ihren Texten in der Literaturgeschichte gab es mehrere Versuche, die vorherrschende Gleichsetzung mit ‚Trivialliteratur‘ aufzuheben, indem der Terminus Frauenliteratur eine neue Bedeutung erhielt (vgl. Volkmann, 2011, S. 27–30). Mit jeder ‚Welle‘ der Frauenbewegung entstand eine Neue Frauenliteratur. Die Autor_in und Feminist_in Sarah Grand (Frances Elizabeth Bellenden Clarke, 1854–1943) prägte während der ersten ‚Welle‘ (ca. 1840er–1930er Jahre) den Begriff Neue Frau (vgl. Grand, 1894, S. 271). In der Folge wurden Romane mit einer emanzipierten Protagonist_in als Neue Frauenliteratur bezeichnet, beispielsweise Olive Schreiners (1855–1920) Story of an African Farm (1998 [1883]) (vgl. Mangum, 1998). Dabei handelt es sich sowohl um einen frühfeministischen als auch um einen Kolonialroman, in dem die emanzipatorischen Bestrebungen der weißen Kolonisator_innen und die Unterdrückung der nicht weißen Bevölkerungsgruppen scheinbar konfliktlos nebeneinanderstehen bzw. nicht thematisiert werden. Im deutschsprachigen Raum erlangte die Literatur der Neuen Frau erst in den 1920er Jahren Popularität, vor allem durch Vicki Baums (1888–1960) Roman stud. chem. Helene Willfüer (1928) (vgl. Barndt, 2003). Charakteristisch für das Verständnis der Neuen Frauenliteratur der zweiten ‚Welle‘ (ca. 1960er–1980er Jahre) war sowohl die Darstellung einer „Selbsterfahrungs- und Erkundungsliteratur ohne besonderen formalästhetischen Anspruch“ als auch „eine Literatur, die subjektive Authentizität auf sprachlich und ästhetisch neue Art darstellen“ (Osinski, 2006, S. 127) wollte. Als eines der bekanntesten Werke gilt Verena Stefans Häutungen (1994 [1975]). Hélène Cixous prägte 1975 den Begriff der écriture féminine für eine Schreibweise, die sich von der phallozentrisch geprägten Sprache zu emanzipieren suchte, indem zum Beispiel verstärkt weibliche (Körper-)Erfahrung miteinbezogen und ein non-lineares, zyklisches Schreiben bevorzugt wurde (vgl. Cixous, 2013). Im deutschsprachigen Raum eröffnete Silvia Bovenschens Frage nach einer ‚weiblichen Ästhetik‘ die theoretische Debatte über mögliche geschlechtsspezifische Differenzen in der Kunstproduktion (vgl. Bovenschen, 1976). Zur Zeit der dritten ‚Welle‘ der Frauenbewegung (ca. 1990er–2000er Jahre) führten Mazza und DeShell (1995) Chick lit als neue Begrifflichkeit für postfeministische Frauenliteratur ein. Chick lit wurde jedoch nicht als Literatur, die vom Mainstream abwich und diesen in Frage stellte (vgl. Mazza, 2006), bekannt, sondern als Genre der Unterhaltungsliteratur, für das ‚Karrierefrauen‘ auf der Suche nach der großen Liebe kennzeichnend sind, z. B. Helen Fieldings Bridget Jones’s Diary (1996) (vgl. Ferriss & Young, 2006). Vergleichbare Labels im deutschsprachigen Raum sind Freche Frauen und Das literarische Fräuleinwunder (vgl. Peitz, 2010, S. 22, 25). Clit lit, so wie die Neue Frauenliteratur der vierten ‚Welle‘ (ca. 2000er Jahre–heute) auch genannt wird, zeichnet sich durch eine offen (post)feministische Haltung, sexuelle Freizügigkeit und das Durchbrechen von Tabus, mit denen der weibliche Körper belegt ist, aus (vgl. Lindemann, 2009; Peitz, 2010, S. 212–226; Freeman, 2014), z. B. Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) oder Lena Dunhams Not That Kind of Girl (2014). [5]
Versuche, Lad lit (auch: Lads literature, Dick lit oder Dude lit), z. B. Nick Hornbys High Fidelity (1995) (vgl. Baldick, 2015) oder die betont ‚maskuline‘ und teils misogyne Frat lit (auch: Fratire), z. B. Tucker Max’ I Hope They Serve Beer in Hell (2006) (vgl. St. John, 2006; Lafsky, 2011), als Labels für populäre zeitgenössische ‚Männerliteratur‘ zu etablieren, können als gescheitert betrachtet werden (vgl. Reed, 2009). Die im deutschsprachigen Raum mit Erscheinen von Tommy Jauds Vollidiot (2004) aufgekommene Genrebezeichnung ‚Männerroman‘ ist im Vergleich zu ‚Frauenroman‘ noch wenig etabliert (vgl. Knaup, 2015). Auch wenn geschlechtsmarkierte Dichotomien wie Gefühl und Verstand, Körper und Geist, ‚Trivial- und Höhenkammliteratur‘ als historische Konstrukte entlarvt wurden (vgl. Hausen, 2007), besteht die Assoziation von Frauen – sowohl Autor_innen als auch Leser_innen – mit weniger anspruchsvoller Literatur weiterhin. Am Literaturmarkt herrscht heute noch ein doppelter Standard vor, der einerseits auf die geschlechtsspezifische Vermarktung vieler Verlage und des Buchhandels, z. B. ‚feminine‘ Buchcovergestaltung, ‚Frauen‘-Regale in Buchhandlungen (vgl. Reichwein, 2009), andererseits auf einen in der Literaturkritik verbreiteten gender bias zurückgeführt werden kann (vgl. Buck, 1992). Diese Geschlechterdisparität wird von der Organisation VIDA Women in Literary Arts belegt, die seit 2009 jährlich das Vorkommen von Autor_innen in literarischen Publikationen und Rezensionsorganen zählt (vgl. VIDA, 2016). [6]
Neben Resignifikationen des Terminus Frauenliteratur und der Konstruktion binärer Literaturkategorien werden von Seiten der queerfeministischen Theorie auch heteronormative Klassifizierungen von Literatur hinterfragt. Queere – auch: LGBT*I* (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*) – Literatur und die Lektürestrategie des Queer Reading haben sich weitgehend etabliert (vgl. Sedgwick, 1997; Babka & Hochreiter, 2008). An geschlechtsmarkierten Literaturkategorien wie Frauenliteratur ist aus queerer Perspektive zu kritisieren, dass sie Heterosexualität als natürliche Setzung ausstellen und den Blick einseitig auf den Sex/Gender-Aspekt lenken. Die Einbeziehung anderer gesellschaftlicher Kategorien wie race, Ethnie, Klasse etc. (vgl. Küppers, 2014) setzte sich zwar zunehmend durch, hat aber meist Supplementcharakter. Ein wiederkehrender Kritikpunkt an populärer zeitgenössischer Frauenliteratur wie Chick und Clit lit ist, dass es sich bei den Autor_innen und Protagonist_innen meist um heterosexuelle weiße Frauen der ‚Mittelklasse‘ handelt (vgl. Ponzanesi, 2014, S. 156; McRobbie, 2015). Frauenliteratur von/für/über Frauen mit anderen soziokulturellen Hintergründen wird als Abweichung von der ‚Norm‘ betrachtet und zur Variante oder zum Subgenre erklärt, beispielsweise Ethnic Chick lit (vgl. Ponzanesi, 2014, S. 156–227). Solche Prozesse des Othering suggerieren, dass weiße Schriftsteller_innen keine ‚Ethnizität‘ haben (vgl. Butler & Desai, 2008, S. 28). [7]
Literatur:
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Zitationsvorschlag:
Folie, Sandra (2016). Frauenliteratur. In Gender Glossar / Gender Glossary (7 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
Persistente URN:
urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-219444 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)
Dr.in Sandra Folie
Universitätsassistentin an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Wien
Arbeitsschwerpunkte / Forschungsinteressen Afropäische Literaturen, Zeitgenössische Literaturen von Frauen* (chick lit), Komparatistische Imagologie und Intersektionalität
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