kurz:erklärt
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Posthumanistische Theoriebildung ist ein transdisziplinäres Wissenschaftsgebiet (vgl. Hayles, 1999; Irrgang, 2005; Gane, 2006; Wolfe, 2010). Forschungen, die diesem zugeordnet werden können, lassen sich in mindestens drei Richtungen unterteilen: einen kritischen, einen populären sowie einen technologischen Posthumanismus (vgl. Loh, 2018; Herbrechter, 2009). Kritischer Posthumanismus dekonstruiert die Figur des Menschen als vermeintlich einziges handlungsfähiges Wesen und analysiert die Tradierung von Dichotomien wie Frau/Mann, Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt (vgl. Loh, 2018, S. 11). In seiner dekonstruktivistischen Kritik am Humanismus und dessen Traditionen – insbesondere an deren Anthropozentrismus, der die Spezies Mensch als ideologiefreies, a-historisches Wesen unterstellt – die spätestens seit der Renaissance für die europäische Geistesgeschichte bestimmend waren, wird deutlich, dass ein solcher Humanismus zu seinem Ende gekommen, also Post-Humanismus sei (vgl. Herbrechter, 2009, S. 11). Durch posthumanistische Kritik wird die Vision eines Menschen etabliert (vgl. Loh, 2018, S. 12; Herbrechter, 2009, S. 7), die diesen nicht ausschließlich als zentralen Ausgangspunkt von Denken und Handeln bestimmt. Der Mensch wird nicht mehr als ‚Held‘ seiner Emanzipationsgeschichte, sondern als Stadium in der Evolution komplexer Lebensformen verstanden (vgl. Herbrechter, 2009, S. 13). Dagegen setzen populäre Vorstellungen von posthumaner, technologisch-verbesserter Menschlichkeit oft unhinterfragt und ideologisch-naiv humanistische Ideen und Grundwerte fort (vgl. Herbrechter, 2009, S. 10; Kurzweil, 2005; Urchs, 1999; Bostrom, 2009; Harris, 2009; Fukuyama, 2003), nicht selten getragen von einer massenmedialen, sensationsheischenden Mixtur aus Feuilletonbeiträgen, populärwissenschaftlichen Magazinen und Verlautbarungen selbsternannter Futurolog_innen (vgl. Herbrechter, 2009, S. 19). Im technologischen Posthumanismus rückt primär die Erschaffung einer artifiziellen Alterität in den Fokus. Mittels einer künstlichen Superintelligenz solle die Spezies Mensch überwunden werden (vgl. Loh, 2018, S. 13). Der technologische Posthumanismus weist gemeinsame Schnittmengen mit dem Transhumanismus auf, einer Wissenschaftsdisziplin, bei der der Mensch mit Hilfe von Technik zum ‚Mensch x.0‘ optimiert werden soll (vgl. Loh, 2018, S. 11). [1]
Feministischer Posthumanismus, der dem kritischen Posthumanismus zuzuordnen ist, stellt Fragen nach der vergeschlechtlichten Dimension des Humanismus-Diskurses in den Vordergrund und kritisiert die androzentrische Gleichsetzung von Mensch und Mann sowie die rassistische Gleichsetzung von Mensch und Weiß-Sein. Feministisch-posthumanistische Theoriebildung ist durch ein Denken in Relationen geprägt und baut auf bereits bestehenden Überlegungen aus den Gender- und Queer Studies, den Human-Animal Studies und der geistes- und naturwissenschaftlichen Technikforschung auf (vgl. Åsberg, 2013). Die US-amerikanische Biologin und Wissenschaftsphilosophin Donna J. Haraway, die US-amerikanische Physikerin Karen Barad und die italienisch-niederländische Philosophin Rosi Braidotti sind Protagonistinnen der Debatten um einen posthumanistischen Feminismus (vgl. Loick, 2013; Schadler, 2013, S. 41–56). Sie wenden sich gegen essentialistische Grundannahmen und betonen stattdessen die Gewordenheit und Kontingenz von Geschichte, Materie und Lebewesen, unterscheiden sich jedoch in ihren Bezugnahmen auf feministische Konzeptionen: Während Haraway und Barad eine queer-feministische Perspektive einnehmen (vgl. Haraway, 1995a; Barad, 2014), vertritt Braidotti eine differenz-feministische Position (vgl. Braidotti, 2003; Braidotti & Butler, 1994). [2]
Für eine feministisch-posthumanistische Forschungsprogrammatik lassen sich drei zentrale Perspektiven ausmachen: Eine erste Perspektive betrifft die Frage nach dem Subjekt(-Status). Der feministische Posthumanismus gesteht allen Lebewesen, Artefakten, Hybridwesen und weiteren belebten und unbelebten Konfigurationen Handlungsfähigkeit (agency) und Aktivität zu (Bath, 2012, S. 97; Braidotti, 2006). In diesem Zusammenhang spricht Braidotti von „posthumanistischer Subjektivität“ (Braidotti, 2014, S. 8, insbes. S. 190–192). Zweitens werden die Differenzierung zwischen Natur und Kultur und daran anknüpfende Grenzziehungen zwischen männlich/weiblich sowie Weiß-Sein/Schwarz-Sein kritisiert (vgl. Haraway, 1995b; Shildrick, 1996; Braidotti, 2003). Statt kategorial getrennte Sphären als gegeben anzunehmen, wird von einer Natur-Kultur-Konfiguration ausgegangen, bei der Natur und Kultur ko konstitutive Bedeutungsfolien bilden, die sich wechselseitig bedingen und gegenseitig hervorbringen (Braidotti, 2014). Prominent kommt dies in dem Begriff nature(s)culture(s) zum Ausdruck (Haraway, 2008; Haraway, 2012; zuerst bei Aronowitz, Martinsons & Menser, 1996, S. 21). Drittens wird die Frage nach Körperfigurationen und -grenzen aufgeworfen (vgl. Halberstam & Livingston, 1995). Körpergrenzen sind in dieser Perspektive nicht festgelegt, sondern sozial konstruiert, stark kontextabhängig und können bisweilen verschwimmen. Verdeutlicht wird dies beispielsweise an naturwissenschaftlichen Experimenten, deren Ausgang maßgeblich von der durchführenden Person abhängt, die mit dem Experiment interagiert, oder von der Interaktion von Menschen mit Rollstühlen, Hunden oder Bakterien (vgl. Barad, 1998; Haraway, 2008; Haraway, 2012; Haraway, 2016). In diesem Zusammenhang wird auch die Körpergebundenheit der Kategorie Geschlecht infrage gestellt (Barad, 2012a, S. 84; Rabinowitz, 2000). [3]
Eine feministisch-posthumanistische, kritische Bezugnahme auf und ein Einbezug der Konzepte Subjekt, Natur/Kultur und Körpergrenzen wird mit der Forderung nach einer Perspektivverschiebung hin zu einer reflexiven Wissenschaftstheorie und -praxis verbunden. Methodologisch könne nicht von einer eindeutigen Trennung zwischen Forschungsobjekt und Forschungssubjekt ausgegangen werden, sondern von einer machtdurchwobenen Situiertheit konkreter Wissensproduktion (vgl. Braidotti, 2011, S. 21–25, S. 29–31; Haraway, 1995c; Barad, 2012a, S. 80–82). Eine feministisch-posthumanistische Wissenschaftsethik verlange es, selbstverständlich gewordene Grenzen infrage zu stellen und die praktischen Entstehungszusammenhänge und Relevanzsetzungen von Grenzziehungsprozessen in den Blick zu nehmen. Die Rezeption des posthumanistischen Feminismus steht in der deutschsprachigen Geschlechterforschung noch weitgehend aus (vgl. Kuhlmann, 2003; Orland, 2005; Singer, 2003). [4]
Kritik erfährt der Posthumanismus hinsichtlich verschiedener Aspekte (vgl. Bath, 2012; Schadler, 2013): So würden dessen Überlegungen zumeist auf einer abstrakt-philosophischen Ebene verbleiben und müssten erst für die Anwendbarkeit in der Geschlechtersoziologie, der Geschlechtergeschichte usw. fruchtbar gemacht werden. Auch ist die Frage, was genau das Post-Humanistische ausmache und welcher Zeitraum als posthumanistisch beschrieben werden solle, umstritten (vgl. Haraway, 2008, S. 164; Braidotti, 2014, S. 42–59; Barad, 2012a, S. 13–14; Barad, 2012b). Die Vagheit posthumanistischer Konzepte wird aber auch als deren Stärke verstanden, die es ermögliche, normalisierte und normalisierende Kategorien zu dekonstruieren und zu ‚verqueeren‘ (Shildrick, 1996, S. 13) sowie die durch humanistische Differenzierungsprozesse entstehenden Ausschlüsse und Diskriminierungen zu kritisieren. [5]
Literatur:
Aronowitz, Stanley; Martinsons, Barbara & Menser, Michael (1996). Technoscience and Cyberculture. New York: Routledge.
Åsberg, Cecilia (2013). The Timely Ethics of Posthumanist Gender Studies. Feministische Studien, 31 (1), pp. 7–12. doi: 10.1515/fs-2013-0103.
Barad, Karen (1998). Getting Real: Technoscientific Practices and the Materialization of Reality. differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, 10 (2), pp. 87–128. doi: 10.1215/9780822388128-006.
Barad, Karen (2012a). Agentieller Realismus. Berlin: Suhrkamp.
Barad, Karen (2012b). What Is the Measure of Nothingness? Infinity, Virtuality, Justice / Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualität, Gerechtigkeit. (dOCUMENTA (13): 100 Notes - 100 Thoughts, 100 Notizen - 100 Gedanken, Bd. 099). Ostfildern: Hatje Cantz.
Barad, Karen (2014). On Touching – The Inhuman That Therefore I Am (v. 1.1). In Susanne Witzgall & Kerstin Stakemeier (Eds.), Power of Material / Politics of Materiality (pp. 153–164). Zürich: Diaphanes.
Bath, Corinna (2012). Wie lässt sich die Vergeschlechtlichung informatischer Artefakte theoretisch fassen? Vom Genderskript zur posthumanistischen Performativität. In Gabriele Jähnert (Hrsg.), Gendered Objects : Wissens- und Geschlechterordnungen der Dinge (S. 88–103). Berlin: Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien.
Bostrom, Nick (2009). Why I Want to be Posthuman When I Grow Up. In Bert Gordjin & Ruth Chadwick (Eds.), Medical Enhancement and Posthumanity (The International Library of Ethics, Law and Technology, pp. 107–136). Berlin: Springer Netherland.
Braidotti, Rosi (2003). Becoming Woman: Or Sexual Difference Revisited. Theory, Culture & Society, 20 (3), pp. 43–64. doi: 10.1177/02632764030203004.
Braidotti, Rosi (2006). Posthuman, All Too Human. Towards a New Process Ontology. Theory, Culture & Society, 23 (7-8), pp. 197–208. doi: 10.1177/0263276406069232.
Braidotti, Rosi (2011). Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory (2nd ed.). New York: Columbia University Press.
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Haraway, Donna J. (1995b). Bin ich eine Frau und un/an/geeignet anders: Das Humane in posthumanistischer Landschaft. In Donna J. Haraway (Hrsg.), Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays (S. 118–135). Hamburg: Argument.
Haraway, Donna J. (1995c). Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In Carmen Hammer & Immanuel Stiess (Hrsg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen (S. 73–97). Frankfurt am Main: Campus.
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Herbrechter, Stefan (2009). Posthumanismus. Eine kritische Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
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Singer, Mona (2003). Wir sind immer mittendrin: Technik und Gesellschaft als Koproduktion. In Sigrid Graumann & Ingrid Schneider (Hrsg.), Verkörperte Technik - entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht (Reihe Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd. 22, S. 110–124). Frankfurt/Main: Campus.
Urchs, Max (1999). Das Menschenbild der Künstlichen Intelligenz. In Anna Katharina Reichardt & Eric Kubil (Hrsg.), Menschenbilder (S. 117–152). Bern: Lang.
Wolfe, Cary (2010). What is Posthumanism? (Posthumanities). Minneapolis: University of Minnesota Press.
Zitationsvorschlag:
Steinfeldt-Mehrtens, Eddi (2019). Posthumanistischer Feminismus. In Gender Glossar / Gender Glossary (5 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
Persistente URN:
urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-334097 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)
Eddi Steinfeldt-Mehrtens, M.A.
geb. 1988
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Arbeitsschwerpunkte / Forschungsinteressenpartizipatives und positioniertes Forschen, Social Justice
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