kurz:erklärt
Der Begriff der ‚Selbstbezeichnung‘ gewann seine Bedeutung und Bedeutsamkeit zunächst in politischen Kontexten. Um ihn an theoretische Konzepte anschlussfähig zu machen, werden im Folgenden probeweise zwei Differenzierungen vollzogen, die sich im weiteren Verlauf jedoch beide wieder aufheben. [1]
1. Individuelle und gruppenbezogene Selbstbezeichnungen
Die erste Differenzierung fragt danach, ob es bei einer ‚Selbst‘-Bezeichnung um das Selbst einer Einzelperson oder um ein gruppenbezogenes Selbst, ein kollektives Selbst, geht. [2]
In den politischen Debatten, in denen der Begriff geprägt wurde, ging es zunächst um Gruppenselbstbezeichnungen wie z.B. ‚Roma und Sinti‘, ‚First People’/‚Native American’ oder ‚Inuit‘, die als Alternativen zu diskriminierenden Gruppenfremdbezeichnungen stark gemacht wurden. Schlägt ein Individuum eine solche gruppenbezogene Selbstbezeichnung vor, werden dabei notwendigerweise auch andere Menschen mitbezeichnet. In diesem Sinne umfasst jede gruppenbezogene ‚Selbst‘-Bezeichnung auch eine Fremdbezeichnung: „Das ‚Wir‘ des Aussagegehaltes fällt nicht zusammen mit dem ‚Wir‘ des Aussagevorgangs, der über das Wir spricht, bzw. mit dem ‚Ich‘, das für das Wir spricht“ (Waldenfels 1997, S. 149). Die gruppenbezogene Selbstbezeichnung irritiert daher die scheinbar klare Dichotomie zwischen Selbst- und Fremdbezeichnungen, auf die sich das Reklamieren eines Selbstbezeichnungsrechts gründet. So kann eine veränderte Gruppenselbstbezeichnung auch verschieben, wer sich selbst zu der nun umbenannten Gruppe zählt und wer zu dieser gezählt wird (für eine Studie zum Beispiel der Gruppenselbstbezeichnung Latinx s. Bianca & Efrén 2021; für eine Analyse, die eindrücklich die logische Komplexität dieser Prozesse aufzeigt s. Craven 2022). [3]
Dass die Gruppe der Bezeichnenden und die Gruppe der Bezeichneten bei Gruppenselbstbezeichnungen nicht identisch sind, ist recht offensichtlich. Aus phänomenologischer und/oder dekonstruktiver Perspektive gilt dies jedoch auch für das Selbstverhältnis einer einzelnen Person: Dieses Selbstverhältnis ist ebenso ein gebrochenes, insofern das Ich des Aussagens im Singular ebenso wenig mit dem bezeichneten ‚(m)ich‘ zusammenfällt wie dies im Plural der Fall ist. [4]
Wenn Derrida (1974, S. 197) von der „Ur-Gewalt“ des Eigennamens spricht, meint er in diesem Sinne nicht etwa eine Gewalt, die nur manche Menschen erfahren würden (im Gegensatz zu Menschen, die mit ihrem Namen ‚glücklich‘ sind). Viel eher geht es bei dieser Ur-Gewalt darum, dass „die erste Nomination, die schon eine Enteignung war“, etwas bloßlegt, ja geradezu bloßstellt, nämlich „was seitdem Funktion des Eigenen war, das sogenannte Eigene, Substitut des verschobenen Eigenen, das vom gesellschaftlichen und moralischen Bewußtsein als das Eigene, das beruhigende Siegel der Selbstidentität [...] wahrgenommen wird“ (ebd., 198; Herv. i. O.). Wir glauben, dass unser Name etwas mit unserer Identität zu tun hätte, uns diese sogar versichern würde. Gerade wenn sich jemand wünscht, den eigenen Namen zu ändern, knüpft er erneut dieses Band zwischen Name und Selbst-Identität. Dass wir einen Namen brauchen, verweist auf die Notwendigkeit, und dass wir einen haben, auf die Möglichkeit einer solchen Identifizierung. Beides bestätigt jedoch gerade nicht das Selbstverständliche der Selbst-Identität, sondern entblößt das Illusionäre einer solchen: „[D]as ist die ursprüngliche Gewalt der Sprache, die darin besteht, den absoluten Vokativ in eine Differenz einzuschreiben [...], Verlust des Eigentlichen, der absoluten Nähe, der Selbstpräsenz, in Wahrheit aber Verlust dessen, was nie stattgehabt hat, einer Selbstpräsenz, die nie gegeben war, sondern erträumt und immer schon entzweit“ (ebd., 197). [5]
Das Sprechen über diese Ur-Gewalt des Namens geht jedoch nicht auf das Spezifikum der diskriminierenden Gewalt ein, die eben nicht alle Menschen, sondern bestimmte Gruppen trifft. Daher lohnt sich eine weitere Differenzierung dessen, was mit ‚Selbstbezeichnung‘ gemeint ist: [6]
2. Kategorien und Namen
Die zweite Differenzierung fragt danach, was mit ‚Bezeichnungen‘ gemeint ist: Geht es um Kategorien oder um Namen? In der Philosophiegeschichte gibt es viele Variationen, genauer zu bestimmen, was eine ‚Kategorie‘ ist und welche Formen von Kategorien es gibt. Im hier relevanten Kontext von Diskriminierungstheorien ist es zielführend, zunächst eine einfache Unterscheidung einzuführen, wobei die Pointe ebenso wie bei der ersten Unterscheidung darin besteht, dass sie bei genauerer Betrachtung wieder zusammenfällt. Die mögliche Unterscheidung lautet zunächst: Während es sich bei Kategorien um Sammelbezeichnungen handelt, akzentuieren Namen das Singuläre, das Einmalige einer Konstellation oder eines Subjekts. [7]
In dieser Unterscheidungslogik dienen Kategorien dazu, alle Elemente (ob nun menschliche oder nicht-menschliche) einer Menge zu bündeln und gewissermaßen ‚im Paket‘ zu bezeichnen. Kategorisierungen entstehen in historischen Prozessen und können sich verändern. Kategorien kann man daher (re-)konstruieren, anders konstruieren und dekonstruieren. Heuristisch lässt sich zwischen Selbstkategorisierungen und Fremdkategorisierungen unterscheiden, doch sind auch diese durch komplexe Mechanismen der Internalisierung (von Unterdrückung) und Identifikation verschränkt. Herabsetzende, entwürdigende und hierarchisierende Fremdkategorisierungen sind ein Element aller Formen von Diskriminierung. Kategorien-bezogene Konzepte zur Frage der Selbstbezeichnung können sich zum Beispiel an Theorien des Otherings (Said 1978) oder an andere diskursanalytische Begriffe und Paradigmen anlehnen: In diesen wird nicht nur die in einer bestimmten Epoche und Gesellschaft gängige kategoriale Bezeichnung, sondern auch die Kategorisierung selbst kritisch in den Blick genommen. [8]
Namen wiederum konstituieren ein Subjekt – ob als einzelnes Subjekt oder als Kollektivsubjekt. Sie sollen das Singuläre, die Einmaligkeit betonen und versuchen, diese in der Bezeichnung identifizierbar zu machen, sie auszuweisen – ein Unterfangen, das sich wie im ersten Absatz mit Derrida dargelegt als illusionär erweist. Stimmt man dieser dekonstruktiven Perspektive zu, verschwimmt daher auch die scheinbar klare Unterscheidung zwischen Kategorien und Namen. [9]
Doch gibt es auch andere Zugänge zur Frage des Namens: [10]
Es gibt Namen, die insofern ‚offiziell‘ sind, als dass sie Teil von Verwaltungsakten sind (also auf ‚Ausweisen‘ im inhaltsflachen Sinne des Wortes, auf der Geburtsurkunde etc.). Alle anderen Namen (Kosenamen, Spitznamen, Schimpfnamen, Spottnamen) entstehen im freien Spiel. Der konstituierende Charakter von Namen entsteht in einem pathischen Zwischen (zwischen dem aktiven Namen-Geben und dem passiven Gerufen-Werden sowie zwischen Subjekten). ‚Durchsetzung‘ und ‚Recht‘ sind daher auch aus phänomenologischer Perspektive keine stimmigen Kategorien zur Erschließung der Prozesse, die sich in diesem Zwischenreich vollziehen. Dies gilt für den liebevollen Spitznamen ebenso wie für Schimpf- und Spottnamen und alle Abstufungen und Variationen dazwischen. An den beiden Extrembeispielen lässt sich der Gedanke jedoch am leichtesten erläutern: [11]
Einen liebevollen Kosenamen, den man sich selbst ausgesucht hat, wie ein Recht einzufordern und durchsetzen zu wollen, wäre narzisstisch, tief verzweifelt. Ein solches Vorgehen würde sogar das Anliegen selbst untergraben: Einem erzwungenen Kosenamen wohnt nichts Liebevolles mehr inne. Ein solcher muss einem Menschen in Freiheit geschenkt werden, um das sein zu können, was er ist und was man daran begehrt: den Ausdruck von Freundschaft, von Zuneigung, von Entspanntheit und Vertrautheit im Umgang miteinander, von Liebe eben. [12]
Denkt man an bösartige Spottnamen gilt ebenso, dass diese nicht ohne die Freiheit der anderen beteiligten Menschen auskommen, auch wenn dies in diesem zweiten Fall zunächst weniger offensichtlich scheinen mag. Welcher Spottname zum Beispiel einem gegnerischen Fußballverein gegeben wird, unterliegt zuweilen einem regelrechten zweiten sportlichen Wettbewerb im Witze-Machen, der sich parallel zum eigentlichen sportlichen Wettbewerb vollzieht. Auch hier hat das Namen-Geben also Spielcharakter. Es gibt dabei (zumeist ungeschriebene) Spielregeln, aber keine Gesetze und keine Rechte. Das wäre ein Kategorienfehler. Die Grenze des Spielcharakters markiert auch die Grenze des Namen-Gebens: Wenn die bezeichnete Person oder Gruppe sich nicht an diesem Spiel beteiligen kann, handelt es sich nach dieser Definition von Name nicht mehr um einen Namen, sondern (nur noch) um eine Beleidigung oder eben um eine diffamierende Fremdkategorisierung. Spottnamen kann man sich in diesem spielerischen Zwischen aneignen, den Scherz aufgreifen, sich selbst karikieren und sie positiv umdeuten. Einen Spottnamen wie ‚Emanze’ oder ‚Kampflesbe’ kann man umarmen und genau damit im freien Spiel zurückschlagen, dass man sich nicht beleidigen lässt, sondern sich ‚gut getroffen’ fühlt. Das wohl berühmteste historische Beispiel für einen solchen Prozess eines verspotteten Kollektivsubjekts liefern die ‚Geusen‘, von denen auch der generisch gewordene Begriff ‚Geusenname‘ stammt. Aber auch die subversive Aneignung der ehemaligen Beleidigungen ‚schwul‘, ‚lesbisch‘ oder ‚queer‘ – ein Prozess, der im aktivistischen Kontext häufig als reclaim bezeichnet wird – zählt zu diesen Phänomenen (für eine empirische Studie zum Beispiel der ‚slut walks‘ siehe Jakob Govrin 2013). Die Unfreiheit in dieser Freiheit, bzw. die Dialektik aus Zwang und Freiheit in diesem Spiel des Namen-Gebens zeigt sich genau darin, dass diese Namen ursprünglich Fremdbezeichnungen waren. Dies ist damit gemeint, dass sich das Spiel der Namen im pathischen Zwischen – zwischen passivem Gerufen-Werden und aktiver Aneignung – vollzieht. Die spielerische (Un-)Freiheit ist es auch, die den Übergang von einer (Fremd-)Kategorisierung zu einem Namen ermöglicht: Indem man sich die Fremdkategorisierung aneignet und mit ihr spielt, kann sie zu einem Namen werden. So ist zum Beispiel ‚Krüppel‘ eine diskriminierende Fremdkategorisierung, während ‚Krüppelbewegung‘ der Name einer aktivistischen Gruppierung ist. Kategorien und Namen hängen also zusammen. Auch können aus Namen in historischen Prozessen Kategorien werden. [13]
Unsere Verletzlichkeit mit Blick auf Namen erwächst in diesem Sinne gerade daraus, dass diese spielerischen, potentiell subversiven Prozesse nicht regulierbar sind, dass sie nicht durch Rekurse auf (Durchsetzungs-)Rechte stillgestellt werden können. Das Selbstbezeichnungsrecht als Recht kann sich daher in seiner Begründung nur ex negativo auf die Verweigerung entwertender Fremd-Kategorisierungen beziehen – und genau so ist es schließlich in den genannten Diskursen zu den Beispielen ‚Roma und Sinti‘, ‚Inuit‘ oder ‚First People‘ auch gemeint: Im Sprechen über ein Selbstbezeichnungsrecht geht es um den darin mitgedachten Gegenhorizont der diskriminierenden Fremdkategorisierung. [14]
Literatur:
Bianca V. Vicuña & Efrén O. Pérez (2021). New label, different identity? Three experiments on the uniqueness of Latinx. Politics, Groups, and Identities. https://doi.org/10.1080/21565503.2021.2010576
Craven, J. (2022). Self-designation and group allocation. Theory and Decision, 94, S. 121-133.
Derrida, Jacques (1974). Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Jakob Govrin, J. (2013). SlutWalk - Resignifizierung von Feminitäten und Feminismen. GENDER - Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 5(1), S. 88–103.
Said, Edward (1978). Orientalism. London: Routledge.
Waldenfels, Bernhard (1997). Topographie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zitationsvorschlag:
Boger, Mai-Anh (2023). Selbstbezeichnung. In Gender Glossar / Gender Glossary (14 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
Peristente URN:
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-853396 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)
Dr. phil. Mai-Anh Boger
Universität Regensburg,
Forschungsschwerpunkte: Philosophien der Differenz und Alterität, Psychoanalyse, Inklusion und Diskriminierung.
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