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Wieland Schwanebeck

Dekonstruktion

Der Begriff der Dekonstruktion bezeichnet ein durch den poststrukturalistischen Philosophen Jacques Derrida entwickeltes Lektüreverfahren, das sich gegen den tradierten hermeneutischen Ansatz richtet. Die Dekonstruktion stellt eine letztgültige, im Text enthaltene Bedeutung in Abrede, legt als „ein gewissermaßen subversives Prinzip der Annäherung an Texte ‚von innen her‘“ (Zapf, 2008, S. 116) Brüche und Verwerfungen frei und postuliert die Unabschließbarkeit des Interpretationsvorgangs. Statt selbst einen Sinn zu behaupten, erfüllt sich der Zweck der Dekonstruktion in der Prozessualität, das heißt im Akt des Fragens selbst: „Dekonstruktion meint Unterwegssein“ (Wetzel, 2010, S. 23). [1]

Zentral ist dabei der von Derrida geprägte Begriff der différance, die „aufgeschobene-verzögerte-abweichende-aufschiebende-sich unterscheidende Kraft oder Gewalt [force différée-différante]“ (Derrida, 1991, S. 15), die zu einem anderen Textverständnis führt. Demnach entfällt der Zugriff auf ein letztgültiges, außerhalb des Textes lokalisierbares, stabiles Signifikat: „Ein Text-Äußeres gibt es nicht“, so Derridas wohl bekanntestes Diktum (Derrida, 1983, S. 274). Da jedes Zeichen immer nur auf andere Zeichen verweist, muss gemäß poststrukturalistischem Verständnis an die Stelle eines letztgültigen, vermeintlich wahrhaftigen Signifikats die permanente Aufschiebung von Bedeutung treten, was zugleich eine eindeutige Definition der Dekonstruktion unmöglich macht. Dass sich die besondere Qualität des différance-Begriffs ausschließlich im Schriftbild nachvollziehen lässt, ist Derridas Kritik am Logozentrismus der traditionellen Metaphysik und ihrer Methoden geschuldet und gestattet ihm zugleich, eine „Vergeltung [der Schrift] an der Rede“ zu postulieren (Bennington & Derrida, 1994, S. 79). Mit ihrer Konzentration auf sprachliche Strukturen und rhetorische Verfahren ist die Dekonstruktion „zugleich eine strukturalistische und eine anti-strukturalistische Bewegung“, denn das Freilegen formaler Strukturen eines Textes deutet deren „ruinöse Zerbrechlichkeit“ an (Derrida, 1998, S. 92). [2]

Zwar verbietet Derridas Verständnis der Dekonstruktion, sie als systematische Methode, geschweige denn als „ein bequemes Instrument, eine Kurzfassung, ein Brevier“ zu beschreiben (Derrida, 1992, S. 28), doch hat sich durchaus eine gängige dekonstruktivistische Lektürepraxis etabliert. Diese besteht im Aufspüren der konstitutiven semantischen Oppositionen eines Textes, der Etablierung des zugrunde gelegten Hierarchieverhältnisses sowie in der Aufhebung dieser zentralen Unterscheidung und dem Zutagefördern der durch sie nivellierten Widersprüche (Barry, 2009, S. 70-71). Die Dekonstruktion ist somit dem verpflichtet, „was sich ganz allgemein als das verschwiegene Andere benennen lässt“, wobei sie „minutiös die Geschichte der Verwerfungen, Zentrierungen, Marginalisierungen, Aneignungen und Identifizierungen [zu rekonstruieren sucht], denen sich die herrschende Geltung des Logos verdankt“ (Wetzel, 2010, S. 11-12). Dieser ideologiekritische Blick wird von einer marginalen Position aus realisiert – folglich gilt Derridas Interesse Schwellenphänomenen wie der Signatur (Derrida, 1988, 1999) oder dem Rahmen in der Malerei (Derrida, 1992). [3]

Da sich Dekonstruktion also vor allem zur Anwendung auf Gegenstände eignet, deren inhärentes Wertesystem klar in binären Oppositionen strukturiert ist und auf der Verdrängung und dem Ausschluss eines abgewerteten Anderen basiert, liegt ihr Wert für die Geschlechterforschung auf der Hand. Während eine strukturalistische Konzeption des Geschlechterverhältnisses im Sinne einer Dichotomie den Anschein von Stabilität und Hierarchiefreiheit erwecken möchte, zeigt ein dekonstruktiver Ansatz auf, dass die Produktion von Sinnstrukturen überhaupt erst durch Abwertung ermöglicht wird. Gegen die mit der binären Logik des Geschlechtersystems einhergehenden Prozesse der Verdrängung, des Verschweigens und der Marginalisierung lässt sich mit der Dekonstruktion folglich ebenso angehen wie gegen jene Ideologien, die sich auf essentialistische Identitätskonzepte berufen oder die sich durch absolut gesetzte, als nicht hinterfragbar geltende Signifikate legitimieren. [4]

 

Literatur:

Barry, P. (2009). Beginning theory: An introduction to literary and cultural theory (Beginnings, 3. Aufl.). Manchester, New York: Manchester University Press.


Bennington, G. & Derrida, J. (1994). Jacques Derrida: Ein Portrait (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1550). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Derrida, J. (1983). Grammatologie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 417). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Derrida, J. (1988). Signéponge (Fiction & Cie, Bd. 88). Paris: Seuil.


Derrida, J. (1991). Gesetzeskraft: Der „mystische Grund der Autorität“ (Edition Suhrkamp, 1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Derrida, J. (1992). Die Wahrheit in der Malerei (Passagen Philosophie). Wien: Passagen-Verlag.


Derrida, J. (1998). Das Beinahe-Nichts des Undarstellbaren. In P. Engelmann (Hrsg.), Auslassungspunkte. Gespräche (Passagen Philosophie, S. 87–97). Wien: Passagen-Verlag.


Derrida, J. (1999). Signatur Ereignis Kontext. In P. Engelmann (Hrsg.), Randgänge der Philosophie (Passagen Philosophie, 2. Aufl., S. 325–351). Wien: Passagen-Verlag.


Wetzel, M. (2010). Derrida (Reclam-Taschenbuch, Bd. 20310). Stuttgart: Reclam.


Zapf, H. (2008). Dekonstruktion. In A. Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe (4. Aufl., S. 115–117). Weimar: J.B. Metzler.


Zitationsvorschlag:

Schwanebeck, Wieland (2013). Dekonstruktion. In Gender Glossar / Gender Glossary (4 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de


Persistente URN:

urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-221130 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)

 

Dr. phil. habil. Wieland Schwanebeck

  • geb. 1984

  • Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung

  • Forschungsinteressen: Gender/Masculinities Studies, Adaptionsforschung, historische Motivforschung

  • wieland.schwanebeck@gmx.de

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