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  • Wieland Schwanebeck

Poststrukturalismus

Unter dem Begriff des Poststrukturalismus wird eine disparate, auf den Axiomen des Strukturalismus aufbauende und diese zugleich überwindende Strömung verstanden, die sowohl innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften als auch in interdisziplinär organisierten Feldern (wie den Gender Studies oder den Postcolonial Studies) von großer Tragweite ist. Poststrukturalistische Theoriebildung wird vor allem mit Theoretikern wie der Psychoanalytikerin Julia Kristeva und dem Psychoanalytiker Jacques Lacan, dem Philosophen Jacques Derrida, dem Erzählforscher Roland Barthes sowie dem Historiker Michel Foucault verbunden. [1]

Mit der unter anderem durch den Russischen Formalismus sowie die Prager Schule genährten Bewegung des Strukturalismus teilt der Poststrukturalismus die Auffassung, dass kulturelle Phänomene allgemein sprachlich strukturiert sind (linguistic turn) und dass, in Übereinstimmung mit dem von Ferdinand de Saussure entwickelten Zeichenmodell, eine durchaus arbiträre Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung besteht. Während den strukturalistischen Denkern allerdings das Beziehungsgefüge des sprachlichen Paradigmas Stabilität verheißt und die Orientierung an der Beziehung zwischen den Zeichen (statt ihrer isolierten Betrachtung) systematische Analysierbarkeit gestattet, stehen die poststrukturalistischen Denker dem arbiträren Charakter des Zeichenkosmos weit skeptischer gegenüber. Sie argumentieren, dass de Saussure mit seiner Unterscheidung in langue und parole den Differenzcharakter einer durchaus instabilen Relation lediglich notdürftig kaschiere (Derrida, 1986, S. 69-71). Angesichts des unendlichen Verweischarakters des sprachlichen Systems, der keinen Glauben mehr an genuin außersprachliche Bedeutung gestattet, öffnet sich vielmehr „a universe of radical uncertainty“ (Barry, 2009, S. 59), in dem die Bedeutungssuche unabschließbar bleiben muss. Sinn entzieht sich gemäß poststrukturalistischem Verständnis, denn das sprachlich entworfene Subjekt wird laut dem an Freud anschließenden Lacan durch sein Unterbewusstsein gelenkt und ist lebenslang dazu verdammt, sich sprachlich am Geburtstrauma abzuarbeiten. Sprache konstituiert damit gleichsam „einen Mangel oder Entzug an Sein und spaltet das Subjekt, das die Struktur der Sprache als die eigene übernimmt“ (Horlacher, 2006, S. 95). Folglich attackiert poststrukturalistisches Denken nicht nur wirkmächtige Konzepte der abendländischen Philosophie oder den traditionellen Autorschaftsbegriff (vgl. Barthes, 2007), sondern führen Lektüreverfahren wie die Dekonstruktion eingedenk des unendlichen Verweischarakters sprachlicher Strukturen gar die Idee des Textsinns ad absurdum und beschränken sich darauf, Widersprüche freizulegen. [2]

Seine Tendenz, unter die Oberfläche vermeintlich stabiler, monolithischer Strukturen zu schauen, qualifiziert den Poststrukturalismus für eine Anwendung auf genderwissenschaftliche Kategorien wie Weiblichkeit und Männlichkeit, deren Bedeutung nicht aus sich selbst erwächst, sondern die als Signifikate innerhalb eines (phallokratischen) Systems zu denken sind (Reeser, 2010, S. 10-15). Damit wird die Geschlechterdifferenz als „ein Effekt der Signifikationspraxis“ lesbar (Stritzke, 2011, S. 141), der die fragwürdigen Grenzen des Natürlichen permanent zu überspielen sucht: „Männlichkeit und Weiblichkeit können nur deshalb als Oppositionspaar gedacht werden, weil die Natur bereits der ‚ursprünglichen Gewalt der Sprache‘ unterworfen wurde, weil die die Sprache ermöglichenden Differenzierungen erfolgten und die in diesen Differenzen eingeschriebenen Differenzen rigoros verdrängt, abgespalten und auf den jeweils differierenden Pol projiziert wurden“ (Horlacher 2006, S. 107). Im Zuge des poststrukturalistischen Paradigmenwechsels werden in den Kulturwissenschaften vor allem die Arbeiten der amerikanischen Philosophin Judith Butler breit rezipiert, für die sich Geschlecht auf Grundlage von Derridas Diktum der Iterabilität als zitathaft darstellt. Ferner stützt sich Butler stark auf die hegemonialkritischen Arbeiten Michel Foucaults: Laut diesem ist Wissen als diskursive Formation organisiert (die Summe aller Äußerungstypen, Begriffe und Ordnungssysteme in einem bestimmten Feld) (vgl. Foucault, 1986, S. 58) und dient zumeist der Stabilisierung von Herrschaft. Butler wendet die Diskurstheorie auf das Feld von Geschlecht und Sexualität an, das den Anschein seiner eigenen Natürlichkeit allein durch wiederholbare Gesten schafft, die permanent zur (Wieder-)Aufführung gelangen (Butler, 2008, S. 191-193) – der Glaube an ein unhintergehbares Original von Männlichkeit oder Weiblichkeit schwindet unter diesem Gesichtspunkt ebenso wie der Allgemeingültigkeitsanspruch der heterosexuellen Norm. [3]

 

Literatur:

Barry, P. (2009). Beginning theory: An introduction to literary and cultural theory (Beginnings, 3. Aufl.). Manchester, New York: Manchester University Press.


Barthes, R. (2007). Der Tod des Autors. In F. Jannidis, G. Lauer, M. Martínez & S. Winko (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (S. 185–193). Stuttgart: Reclam.


Butler, J. (2008). Gender trouble: Feminism and the subversion of identity. New York, London: Routledge.


Derrida, J. (1986). Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva. In P. Engelmann (Hrsg.), Passagen Forum. Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta (2. Aufl., S. 52–82). Wien: Passagen-Verlag.


Foucault, M. (1986). Archäologie des Wissens (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Horlacher, S. (2006). Masculinities: Konzeptionen von Männlichkeit im Werk von Thomas Hardy und D.H. Lawrence (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 64). Tübingen: Gunter Narr.


Reeser, T. W. (2010). Masculinities in theory: An introduction. Chichester, Malden, MA: Wiley-Blackwell.


Stritzke, N. (2011). Subversive literarische Performativität: Die narrative Inszenierung von Geschlechtsidentitäten in englisch- und deutschsprachigen Gegenwartsromanen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier.


Zitationsvorschlag:

Schwanebeck, Wieland (2013). Poststrukturalismus. In Gender Glossar / Gender Glossary (3 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de


Persistente URN:

urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-221241 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)

 

Dr. phil. habil. Wieland Schwanebeck

  • geb. 1984

  • Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung

  • Forschungsinteressen: Gender/Masculinities Studies, Adaptionsforschung, historische Motivforschung

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