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Hanna Meißner

Subjekt

Subjekt ist die folgenreiche Selbstbeschreibung des modernen Menschen, mit der sich dieser als Grundlage von Erkenntnis und als Ursache von Handlungen setzt. Die historischen Ursprünge dieses selbstreferenziellen Verständnisses gehen nicht zuletzt auf Descartes’ (2008 [1641]) Verankerung der Selbstgewissheit des ‚Ich’ im eigenen Denken zurück und finden in Kants (1998 [1781]) Verortung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im apriorischen Denkapparat des Subjekts eine paradigmatische Begründung. Gegen diese eher atomistischen Vorstellungen setzte Hegel (1986 [1807]) wiederum die Annahme einer grundlegenden Intersubjektivität; erst indem es sich im Anderen reflektiere, entstehe das Selbstbewusstsein. Aus einer feministischen Perspektive ist dieses moderne Subjektverständnis insofern folgenschwer, als es nicht nur ein spezifisches Verhältnis von (individueller) Innerlichkeit und äußerlichen (erkennbaren und potentiell beherrschbaren) Bedingungen impliziert, sondern weil zudem der Anspruch einer allgemeinen menschlichen Subjekthaftigkeit konstitutiv mit einer binären Geschlechterordnung verbunden ist: Die „Generalisierung des Mannes zum Menschen“ ging historisch mit der „Besonderung der Frau“ (Honegger, 1991, S. 6) zum Objekt, zum ‚Anderen’ des Mannes, einher. [1]

In aktuellen subjekttheoretischen Diskussionen hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass diese Vorstellung des Subjekts konstitutiv mit spezifischen Bedingungen der Moderne verknüpft ist, einer historischen Konstellation, in der keine äußerlich gegebene Ordnung mehr als Garant für Stabilität und angemessenes Verhalten dient, in der die Wirklichkeit als kontingent erlebt und diese Kontingenz zugleich als Gestaltungsaufgabe begriffen wird. Angesichts dieser fundamentalen Haltlosigkeit lässt sich die Idee eines Subjekts, „das sich selbst und allem anderen zugrunde liegt“, als „bis heute wichtigste[s] Rettungsprogramm“ (Luhmann, 1994, S. 42) moderner Selbstverständigung fassen; das Problem der Ordnung ist gewissermaßen in die Individuen hineinverlagert. [2]

Statt über seine Stellung in einer vorgegebenen Ordnung wird das Individuum in diesem (Selbst)Verständnis über seine Individualität bestimmt, es begreift sich als authentisches Wesen mit innerer Substanz (Identität). Als Subjekt erlebt sich das moderne Individuum also synchron und diachron über unterschiedliche Kontexte hinweg als dieselbe Person mit bestimmten inneren Dispositionen und Eigenschaften, die es in einem Entwicklungs- oder Sozialisationsprozess ausbilden kann (Ricken, 2012); es ist gehalten, sein Erleben und Handeln mit Bezug auf innere Motive zu begründen und vor allem ist es aufgefordert, sich als autonom und selbstbestimmt zu begreifen. Das Subjekt wird zur Schlüsselkategorie aufklärerischer Gewissheit, dass der Mensch in die Welt eingreifen und sie nach seinen Vorstellungen gestalten kann. [3]

Der selbstverliehene Titel ‚Subjekt’ (Luhmann, 1994, S. 48) ist auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts individualisierender Fixpunkt des Selbst- und Weltbezugs, Fokus von ethischen Vorstellungen, politischen Programmen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Der emphatische Begriff zentrierter Subjekthaftigkeit erodierte allerdings bereits in den gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden (sozialwissenschaftlichen) Diskussionen über das (als konstitutiv verstandene) Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (Reichertz, 2010, S. 38; Nassehi, 2006): Zwar erscheint weiterhin die unhintergehbare Individualität des Subjekts als Erklärungsgrund des Handelns, zugleich wird aber angenommen, dass sich diese ihrerseits nur in der Unterwerfung unter ein (äußeres) Allgemeines verwirklichen kann. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen des Subjekts bewegen sich damit in einem Spannungsfeld entsprechender Dualismen – Individuum / Gesellschaft, Handlung / Struktur, Voluntarismus / Determinismus, Autonomie / Heteronomie – und in den Versuchen ihrer konzeptuellen Integration in Modelle sozialer Handlungsfähigkeit (Bourdieu, 1973; Giddens, 1988). [4]

Die Erosion des emphatischen Subjektbegriffs, die Dezentrierung des Subjekts als letztem Grund von Handlungen und Wissen erfährt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den poststrukturalistischen Debatten eine Zuspitzung als Subjektkritik. Die Subjekthaftigkeit des Menschen wird dabei als radikal historisches Phänomen betrachtet, das in seinen spezifischen Bedingungen der Möglichkeit situiert werden muss. Foucaults Frage nach den „verschiedenen Verfahren [...], durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (Foucault, 1994, S. 243), richtet den Blick auf das Subjekt als paradoxe Figur, die „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen [...] und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet“ ist (Foucault, 1994, S. 246). Foucault rekonstruiert die Verfahren der Subjektivierung im Hinblick auf die spezifische Ordnung der Wahrheit, in der der Mensch zum Subjekt und Objekt von Erkenntnis wird, er analysiert die historischen Machtpraktiken, durch die sich Subjekte mit spezifischen Potentialen und Handlungsweisen konstituieren, und er fragt nach den ethischen Formen, durch die sich Individuen als Subjekte konstituieren und anerkennen. Die an Derrida anschließende Dekonstruktion des Subjekts hebt die Bedeutung des ‚Anderen‘ in der Konstitution des Subjekts hervor (Derrida, 1976); das Subjekt kann sich nur über Ausschluss und Abgrenzung als autonom und selbstidentisch bestimmen. [5]

Insbesondere feministische und postkoloniale Kritiken verweisen auf die inhärente Gewaltsamkeit dieser Subjektivierungsweise, die das Subjekt seine Autonomie darüber erlangen lässt, dass es seine Abhängigkeiten verleugnen und an Andere verweisen kann. Die Figuren des ‚Wilden’ und des ‚Weiblichen’ lassen sich als historische Grenzfiguren (Purtschert, 2006) ausmachen, über deren Ausschluss sich das Subjekt erst als unabhängig, souverän und rational konstituiert – und damit eine ganz spezifische Norm weißer, bürgerlicher Männlichkeit als universelle Bestimmung des Menschen setzt. Rassistische und sexistische Klassifikationen sind insofern konstitutiv für dieses Subjekt (Stoler, 2002). Die Souveränität des Subjekts erscheint somit als Privileg; sie beruht auf der Indienstnahme von Anderen, denen als abweichende ‚Sonderfälle’ Abhängigkeiten und Fürsorge zugeschrieben werden. Im Sinne einer Subjektkritik ginge es aus dieser Sicht folglich nicht darum, den (unmöglichen) Einschluss der Anderen in diesen Subjektstatus anzustreben, sondern vielmehr darum, „sich in ein kollektives Projekt [einzubinden], in welchem der eigene Status als ein Subjekt aus demokratischen Gründen eine Verunsicherung erfahren muss“ (Butler, 2009, S. 69-70). Grundlegend ist aus dieser Perspektive die Frage, wie die konstitutiven Bedingungen der Subjektivierung so verändert werden können, dass die fundamentale Relationalität und damit die primäre Beziehung zum Anderen zur Grundlage von Ethik und Handlungsfähigkeit wird (Venn, 1997; Yeğenoğlu, 1998; Butler, 2010). [6]

 

Literatur:

Bourdieu, P. (1973). Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt (Theorie, 1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Butler, J. (2008). Die Macht der Geschlechternormen. Und die Grenzen des Menschlichen (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Butler, J. (2010). Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main, New York: Campus.


Derrida, J. (1976). Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas’. In Die Schrift und die Differenz (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 177, 1. Aufl., S. 121–235). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Descartes, R. (2008). Meditationes de prima philosophia (Philosophische Bibliothek Hamburg, Bd. 597). Hamburg: Meiner.


Foucault, M. (1994). Das Subjekt und die Macht. In H. L. Dreyfus & P. Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (Neue wissenschaftliche Bibliothek, 2. Aufl., S. 243–261). Weinheim: Beltz, Athenäum.


Giddens, A. (1988). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (Theorie und Gesellschaft, Bd. 1). Frankfurt am Main: Campus.


Hegel, G. W. F. (1986). Phänomenologie des Geistes (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 603). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Honegger, C. (1991). Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfurt am Main, New York: Campus.


Kant, I. (1998). Kritik der reinen Vernunft (Philosophische Bibliothek, Bd. 505). Hamburg: Meiner.


Luhmann, N. (1994). Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen. In P. Fuchs & A. Göbel (Hrsg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft? (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1177, 1. Aufl., S. 40–56). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Nassehi, A. (2006). Der soziologische Diskurs der Moderne (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Purtschert, P. (2006). Grenzfiguren. Kultur, Geschlecht und Subjekt bei Hegel und Nietzsche (Reihe "Politik der Geschlechterverhältnisse", Bd. 33). Frankfurt am Main, New York: Campus.


Reichertz, J. (2010). Das sinnhaft handelnde Subjekt als historisch gewachsene Formation des Menschen? In B. Griese (Hrsg.), Subjekt - Identität - Person? Reflexionen zur Biographieforschung (S. 21–48). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


Ricken, N. (2012). Bildsamkeit und Sozialität. Überlegungen zur Neufassung eines Topos pädagogischer Anthropologie. In N. Balzer & N. Ricken (Hrsg.), Judith Butler: Pädagogische Lektüren (S. 329–352). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


Stoler, A. L. (2002). Carnal knowledge and imperial power. Race and the intimate in colonial rule. Berkeley: University of California Press.


Venn, C. (1997). Beyond Enlightenment? After the Subject of Foucault, Who Comes? Theory, Culture & Society, 14 (3), 1–28.


Yeğenoğlu, M. (1998). Colonial fantasies. Towards a feminist reading of Orientalism (Cambridge cultural social studies). Cambridge, New York: Cambridge University Press.


Zitationsvorschlag:

Meißner, Hanna (2014): Subjekt. In Gender Glossar / Gender Glossary (6 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de


Persistente URN:

urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-220703 (Langzeitarchiv-PDF auf Qucosa-Server)

 

Hanna Meißner

Hanna Meißner studierte Soziologie, Politikwissenschaften, Psychologie und Niederlandistik an der Freien Universität Berlin und an der Université de Toulouse-Le Mirail und schloss 1998 ihr Studium mit einem Diplom in Soziologie ab. An der Humboldt-Universität zu Berlin wurde sie 2009 aufgrund ihrer Arbeit „Bedingte Kontingenz. Zur sozialen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit“ promoviert. Von 1999 bis 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin im Bereich Sozialstruktur und theoretische Grundlagen. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Technischen Universität Berlin.



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